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Von Redaktionsbuero.

In den musikalischen Underground graben!

Mit der Musik über alle Barrieren

„Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist“, hat der französische Schriftsteller Victor Hugo einmal gesagt. Genau.Deswegen haben wir uns diesmal entschlossen, eine Ausgabe von „Report“ der Musik zu widmen und sie folgerichtig nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Hören anzubieten. Bildet die Sprache im journalistischen Alltag ständig Hürden hinsichtlich der grenzüberschreitenden Kommunikation, so erlaubt uns die Musik, uns nonverbal über alle sprachlichen Barrieren hinweg auszutauschen. Und – zugegeben – sinnlicher ist es zuweilen auch. Ein Vorgeschmack auf unseren Online-Relaunch im Frühling 2006, für den wir neben anderen Innovationen ein Radio mit neuer und alter Musik aus Zentraleuropa einplanen.

Unsere akustische Exkursion hat uns diesmal an „die geografischen Ränder des Ostens“ verschlagen, in die Länder der einstigen Sowjetunion. Dort haben wir uns in den musikalischen Underground gegraben und keinen Folklorekitsch, sondern schrägen Sound, Noise, Experimentelles ausgehoben. Gelandet sind wir erst einmal im Baltikum, dann über dem Polarkreis in Murmansk, einer Stadt, in der die Einwohner aufgrund ihres gestörten Biorhythmus in den Polarnächten am Rande des Wahnsinns entlangschlittern, um sich allenthalben in manische kreative Anfälle zu retten. Anschließend ging es weiter ans Japanische Meer nach Wladiwostok, was übersetzt übrigens so viel wie „Herr des Ostens“ heißt, und zurück an den östlichen Rand Europas, in die Ukraine, ein Land mit einer großen Volksmusik- und Gesangstradition, die bis heute, selbst unter jungen Menschen, wie selbstverständlich lebendig gehalten wird. Ob Party, Zeltlager oder Namenstag: Der Ukrainer singt – und das findet selbst in der aktuellen Elektronikmusik seinen Niederschlag.

Führer unserer langen Reise waren Anna Ceeh, die russische Künstlerin und Managerin vom Label „Laton“, und der österreichische Laton-Gründer, Elektronikmusiker, DJ und Soundartist Franz Pomassl. Beide haben für uns ihre Freunde und Musikerkollegen vor Ort gebeten, ihre lokale und persönliche Musikgeschichte der letzten zehn Jahre aufzuzeichnen. Entstanden sind so Dokumente von historischem Wert, den man vielleicht erst in den kommenden Jahren erkennen wird. Sie beweisen, dass in der Sowjetunion vor der Wende 1989 ähnliche oder sogar die gleichen Musikentwicklungen und musikalischen Experimente existierten wie im „imperialistischen Westen“, unabhängig von technischen Möglichkeiten, Vorbildern und musikhistorischen Vorkenntnissen.

Igor Stepovyi und Kirill Junolainen von der Murmansker Band „Lazer Kontinent“ etwa erforschten damals die Grenzbereiche zwischen Noise, Ambient und New Wave. „Wir wollten Musik ohne Musikinstrumente machen“, erzählt Kirill Junolainen. „Stattdessen spielten wir alle denkbaren und undenkbaren Dinge, angefangen von der Bohrmaschine bis hin zu Bruchglas. Wir nahmen aus Prinzip nichts auf Tonträger auf; es ging uns einfach um das L’art pour l’art.“ Westliche Bands wie „Throbbing Gristle“, „SPK“, „Psychic TV“, „Coil“ oder „Cabaret Voltaire“ hatten schon vor ihnen dieses Konzept realisiert. „Wir hatten nur in unserer Isolation und Abgeschlossenheit davon noch nichts mitgekriegt“, so Junolainen. „Aber einen Vorteil hat das immerhin gehabt: In unserer kleinen Welt UdSSR hatten wir uns unsere Spontaneität erhalten.“
In diesem Sinne: Lesen – und hören Sie diesmal bitte auch – Spontanes, Skurriles, Seltsames und Wundersames aus dem musikalischen „Osten“, wo immer der beginnt und endet.

Herzlichst
Antje Mayer und Manuela Hötzl
www.redaktionsbuero.at
www.laton.at

Übrigens:

Die nächste Printausgabe des „Report“ erscheint am 15. März 2006 anlässlich der Ausstellung „Kontakt … aus der Sammlung der Erste Bank-Gruppe“ im MUMOK Wien (17.3.–21 5. 2006) und im tranzit workshop space Bratislava (18.3.–21.5. 2006).
Darin widmen wir uns der Epoche, in der auch der zeitliche Schwerpunkt der Sammlung der Erste Bank-Gruppe liegt: den sechziger und siebziger Jahren in Ost und West, wobei wir im „Report“ vor allem in einstigen tschechischen Untergrund vorstoßen. Ein Porträt der tschechischen Kultband „Plastic People of the Universe“ ist dabei, ein kritisches Interview mit dem Präsidenten des Internationalen PEN-Club Jiří Gruša, und außerdem fragen wir junge Künstler, wie sehr ihre 68er-Mütter und -Väter ihre Arbeit beeinflusst haben. Mějte se hezky!

www.kontakt-collection.net
www.mumok.at
www.tranzit.org



Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,November 2005
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